.... und was der Deutsche Ethikrat damit zu tun hat.
Dieses Schlaglicht ist inspiriert vom Ganztagskongress in Berlin vom 26.- 27. April 2023.
Der Rechtsanspruch auf ganztägige Bildung und Betreuung bis zum 14. Lebensjahr, der ab 2026 aufwachsend bundesweit umgesetzt werden soll, bringt eine zunehmende Aufmerksamkeit für diesen Bereich mit sich.
Zum einen Aufmerksamkeit für die Frage, wie dies in den förderalen Strukturen umgesetzt werden soll, wo die vielfältigen Zuständigkeiten von Ministerien, Kommunen und verschiedenen Ämtern ganz eigene Herausforderungen mit sich bringen.
Ganz zu schweigen vom Fachkräftemangel, der bis 2026 noch weiter zunehmen wird. Verglichen damit hatten wir in Hamburg gute Bedingungen, als vor 10 Jahren Ganztag im Schulgesetz verankert wurde.
Zum anderen Aufmerksamkeit für die Frage, wie ein guter Ganztag für Kinder sein sollte und welche Erwartungen damit verbunden sind. Während im Zuge der letzten bundesweiten Initiative zum Ganztagsschulausbau nach dem PISA-Schock 2001 der Fokus auf verbesserten Bildungschancen lag (insb. dem fachlichen Lernen), wird dieser nun in der aktuellen Debatte deutlich erweitert bzw. verändert. Die Frage, was einen „guten Ganztag“ für Kinder ausmacht, ist stärker ins Zentrum gerückt und bestimmt die aktuelle Diskussion. Nicht zuletzt, weil Vereinbarkeit von Familie und Beruf weit mehr bedeutet, als eine Betreuung sicherzustellen.
Eltern wünschen sich einen guten Ort für ihre Kinder, an dem sie sich wohlfühlen und begleitet werden von verlässlichen Bezugspersonen, die sie darin unterstützen, ihre Potenziale zu entfalten und soziale Beziehungen zu pflegen – jenseits schulischer Lernsettings.
Dem sollte wohl auch der Titel des Kongresses entsprechen, der Ende April in Berlin stattfand. Das Wort Schule kam darin nicht vor, ein Novum!
Ein weiteres Novum ist, dass es auf Bundesebene eine gemeinsame Geschäftsstelle von Familien- und Bildungsministerium gibt, aus der heraus der Ausbau begleitet und gefördert wird (weitere Infos zum Ganzstagskongress).
Der Ganztagskongress, wie er nun hieß, stand unter dem Motto: „Gelingensbedingungen für guten Ganztag“.
Im Gegensatz zu den Vertretungen vieler anderer Bundesländer gab es für die anwesenden Praktiker aus Hamburg und auch uns als Verband nach den letzten 10 Jahren Ganztag in Hamburg und diversen Ganztagsschulkongressen wenig Neues. Hamburg könnte an vielen Stellen gut als Lern- und Lehrbeispiel dienen, was Gelingensbedingungen betrifft. Solchen, die wir vorzeigen können im Sinne von “Good Practice” und solchen, die sich als echte Stolpersteine gezeigt haben und auch bei uns noch bewegt werden müssen.
Dennoch gab viele gute Impulse aus der Wissenschaft, die sich nach den STEG-Studien nun endlich nicht nur der Frage widmet, ob Kinder im Ganztag bessere Leistung bringen, sondern was Qualität im Ganztag für Kinder ausmacht und wie das erreicht werden kann.
Einer dieser guten Impulse kam von Prof. Dr. Thomas Coelen von der Uni Siegen. Die Überschrift seines Inputs ziert dieses Schlaglicht.
Wofür könnte Kooperation im Ganztag gut sein?
Er ging sehr klar auf die Frage ein, was Kooperation ausmacht: gemeinsame Ziele arbeitsteilig verfolgen.
Dabei betonte er, dass Kooperation von der Differenz lebt, von der Anerkennung, dass der andere etwas besser kann, von einer guten Mischung aus zweckgerichtetem und wertebetontem Handeln.
Während das zweckgerichtete Handeln in unserer Lebenswelt überhandnimmt und übergriffig werden kann, bereichern Kooperationen zwischen verschiedenen Institutionen das Mischungsverhältnis und es lassen sich echte Synergieeffekte erzielen.
Eine gute Kooperation benötigt daher
• gemeinsam zu erreichende Ziele,
• Kommunikation,
• Vertrauen,
• eine gewisse Autonomie und
• eine Norm der Reziprozität).
Und wann sollte man nun nicht (mehr) kooperieren?
Oder fragen wir anders: Wann sollte die Kooperation auf den Prüfstand? Ganz klar, wenn die Synergieeffekte nicht (mehr) erzielt werden können, weil z.B. ein Kooperationspartner übergriffig wird und sich den anderen quasi einverleibt.
… und was hat der Deutsche Ethikrat damit zu tun?
Als in Hamburg vor 10 Jahren Ganztag eingeführt wurde, bestimmten das „Wie“ und „Was“ die Diskussionen. Der Zweck war Ganztag. Das „Warum“, die Frage, der 80% unserer Motivation entspringen, wird immer wieder in den Hintergrund gedrängt.
Das „Warum“ prägte auch die Debatte auf dem Ganztagskongress. Was ist das wertebasierte Ziel, könnte man fragen, insbesondere auch angesichts der Corona-Nachsorge-Zeit und weiter bestehender Krisen.
Diese Frage wurde gleich zu Beginn in einem eindrücklichen Statement der Vorsitzenden des Deutschen Ethikrates aufgegriffen, der sich selbst kritisiert, in der Pandemie der Stimme der Kinder und Jugendlichen nicht genügend Beachtung geschenkt zu haben und sich dafür entschuldigt sowie Empfehlungen ausspricht:
„Die Gesellschaft ist Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsene bislang vieles schuldig geblieben. Dazu gehört auch das ausdrückliche Eingeständnis, dass in der Pandemie die Belange und Belastungen der jüngeren Generationen und insbesondere die Herausforderungen für ihre psychische Gesundheit in der gesellschaftlichen und politischen Wahrnehmung und Gestaltung – auch durch den Deutschen Ethikrat – nicht ausreichend Beachtung erfahren haben. Dieses Versäumnis muss zum Anlass genommen werden, zukünftig die Belange der Jüngeren stärker zu gewichten.“
Bezugnehmend auf die Pandemie als Zeit der emotionalen und existenziellen Krise: „Diese Erfahrung ist gekennzeichnet durch Vereinsamung, Isolation und Angst, übermäßigen Medienkonsum sowie das Fehlen äußerer Strukturen, die dem eigenen Leben üblicherweise Halt geben. Das Erlernen der im Zuge der Schulschließungen nicht (immer) hinreichend vermittelten Unterrichtsinhalte erzeugte zusätzlichen Leistungsdruck, der bis in die Gegenwart anhält. Lerndefizite wurden früh thematisiert, dass Bildungsorte auch soziale Lebensorte sind, wurde hingegen oft übersehen.“
Zur körperlichen Unversehrtheit und psychischen Integrität: „Trotz mancher Hilfsangebote, etwa zum Aufholen von Lernstoff oder zur Kompensation von körperlichen und kulturellen Fertigkeiten, ... bleibt der Eindruck, dass die Bedürfnisse der jungen Generation wenig Gehör finden. … Gesundheitliche Integrität ist ohne die psychische Integrität nicht vollständig. Gerade in der Rückschau auf die vergangenen Jahre ist es geboten, die Auswirkungen der unterschiedlichen, immer auch für die junge Generation folgenreichen Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie einer (selbst-)kritischen Analyse zu unterziehen, die insbesondere die – teilweise nicht vorausgesehenen – negativen Konsequenzen einzelner Maßnahmen für Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene umfasst.“ (>> zum ganzen Wortlaut und alle Empfehlungen)
Fazit für den Ganztag:
Schule ist für 10-13 Jahre ein entscheidender Lebensort für alle Kinder und Jugendlichen.
Es gibt keinen anderen Ort jenseits der Familien, an dem so viel Einfluss genommen wird und genommen werden kann auf ihren weiteren Lebensweg.
Vor diesem Hintergrund allein, aber umso mehr angesichts der gesellschaftlich emotionalen und existenziellen Krisen aktuell und rückblickend, muss die Kindorientierung Leitfaden sein für alle Handlungen, die im Kontext Schule und Ganztag stattfinden.
Daraus ergeben sich folgende Fragestellungen konkret für die Kooperation im Ganztag:
- Wie beteiligen wir Kinder und Jugendliche an den für sie relevanten Prozessen und Entscheidungen?
- Mit welchen Maßnahmen können wir das Wohlgefühl und die Resilienz fördern?
- Welche niedrigschwelligen psychosozialen Angebote können wir bieten oder ausbauen?
- Wie informieren wir und klären gemeinsam/arbeitsteilig auf über Beratungs- und Hilfsangebote, in kultursensibler und nicht stigmatisierender Weise?
- Welche Kinder benötigen besondere Aufmerksamkeit im Hinblick auf multiple Problemlagen (insb. bei Übergängen)?
- Welche Netzwerkpartner sind im Sozialraum relevant für Kinder- und Jugendliche?
Angesichts des Fachkräftemangels und der damit einhergehenden organisationsinternen Probleme steht all das vor großen Herausforderungen und wieder mal mag das „Wie“ und „Was“ dabei die Oberhand zu gewinnen. Doch das „Warum“ ist die Stärke der sozialen Arbeit! Halten Sie es hoch, stärken Sie Ihre Leitungskräfte darin!
Wir, Der PARITÄTISCHE Hamburg, unterstützen Sie dabei und setzen uns für die dafür notwendigen Rahmenbedingungen ein! Denn auch wir wollen uns von Herzen anschließen an die letzte Empfehlung des Deutschen Ethikrates zum Thema Pandemie und psychische Gesundheit bei Kindern und Jugendlichen:
„Im Verlauf der Pandemie haben Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene besondere Belastungen erlebt. Sie haben erhebliche Freiheitseinschränkungen hingenommen und sich gleichwohl in hohem Maße solidarisch gezeigt. Die Gesellschaft schuldet Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen für diese Solidaritätsleitung großen Dank und Respekt. Dies verpflichtet zu konkretem Handeln. Der Deutsche Ethikrat empfiehlt, dieser Anerkennung von politischer Seite Ausdruck zu verleihen und entsprechend zu handeln.“
Manja Scheibner, Referentin Kooperation im Ganztag