Bundesverfassungsgericht: Gesetzliche Regelungen zur Vergütung von Gefangenenarbeit in Bayern und Nordrhein-Westfalen sind verfassungswidrig

Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts hat am 20. Juni 2023 entschieden: Die landesrechtlichen Vorschriften des Bayerischen Strafvollzugsgesetzes und des Strafvollzugsgesetzes Nordrhein-Westfalen, die die Vergütung von Gefangenen im Strafvollzug für dort erbrachte Arbeitsleistung erhalten, sind mit dem Resozialisierungsgebot aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) unvereinbar.

In den gesetzgeberischen Konzepten zur Umsetzung des verfassungsrechtlichen Resozialisierungsgebots im Bayerischen Strafvollzugsgesetzes (Art. 46 Abs. 2 S. 2, Abs. 3, Abs. 6 S. 1 BayStVollzG) und im Strafvollzugsgesetz Nordrhein-Westfalen (§ 32 Abs. 1 Satz 2, § 34 Abs. 1 StVollzG NRW) ist nicht nachvollziehbar, welche Bedeutung dem Faktor Arbeit – im Vergleich zu anderen Behandlungsmaßnahmen – zukommt, welche Ziele mit dieser Behandlungsmaßnahme erreicht werden sollen und welchen Zwecken die vorgesehene Vergütung für die geleistete Arbeit dienen soll.

Die Verfassungsrichter:innen des zweiten Senats bemängeln, dass Wesentliches nicht gesetzlich geregelt ist. Es fehlen gesetzliche Regelungen zur Kostenbeteiligung der Gefangenen an Gesundheitsleistungen und in Bayern zusätzlich gesetzliche Vorgaben für den Inhalt der Vollzugspläne. Darüber gibt es keine kontinuierliche, wissenschaftlich begleitete Evaluation der Resozialisierungswirkung von Arbeit und deren Vergütung.

Das verfassungsrechtliche Resozialisierungsgebot aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art.1 Abs. 1 GG verpflichtet den Gesetzgeber dazu, ein umfassendes, wirksames und in sich schlüssiges, am Stand der Wissenschaft ausgerichtetes Resozialisierungskonzept zu entwickeln sowie die von ihm zu bestimmenden wesentlichen Regelungen Strafvollzugs darauf aufzubauen (Leitsatz).

Im Gesetz muss ein Gesamtkonzept zur Erreichung des von Verfassungswegen vorgegebenen Resozialisierungsziels erkennbar sein. Die Bedeutung von Arbeit als Behandlungsmaßnahme und die hierfür vorgesehenen (Gesamt-)Vergütung muss im Rahmen dieses Gesamtkonzepts festgeschrieben werden. Das beinhaltet insbesondere die Gewichtung des monetären und nicht monetären Teils der Vergütung sowie die gesetzliche Festlegung der Bemessungsgrundlage für den monetären Teil der Vergütung mit einer gegebenenfalls vorzunehmenden Kategorisierung der Arbeit nach verschiedenen Vergütungsstufen.

Das Bundesverfassungsgericht sieht den Gesetzgeber jedoch nicht auf ein bestimmtes Regelungskonzept festgelegt, sondern verpflichtet zur Entwicklung eines wirksamen Konzepts mit einem weiten Gestaltungsraum – unter Einbeziehung der Erfahrung und des Wissens aus der Vollzugspraxis und orientiert am aktuellen Stand wissenschaftlicher Erkenntnisse.

Die Frage nach den verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Höhe des für Gefangenenarbeit im Strafvollzug gewährten Entgelts kann laut der Verfassungsrichter:innen nur aus dem Zusammenhang mit dem vom Gesetzgeber entwickelten Resozialisierungskonzept beantwortet werden. Das Resozialisierungskonzept muss daher klar erkennen lassen, welchen Zwecken die vom Gesetzgeber festgelegte Vergütung für Gefangenenarbeit dienen soll.

„Die Entwicklung eines Resozialisierungskonzepts, das dem verfassungsrechtlichen Resozialisierungsgebot gerecht werden soll, ist wesentlich für die Verwirklichung des Grundrechts der Gefangenen auf Resozialisierung. Sie ist zudem für Staat und Gesellschaft von erheblicher Bedeutung.“ (Bundesverfassungsgericht, Pressemitteilung Nr. 56/2023 vom 20. Juni 2023)

Pressemitteilung des Bundesverfassungsgerichts, Nr. 56/2023 vom 20. Juni 2023: https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/2023/bvg23-056.html

Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 20. Juni 2023: https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Downloads/DE/2023/06/rs20230620_2bvr016616.pdf?__blob=publicationFile&v=2

Pressemitteilung der BAG-S: Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Gefangenenvergütung ist eine Ohrfeige!

https://www.bag-s.de/aktuelles/aktuelles0/pressemitteilung-urteil-des-bundesverfassungsgerichts-zur-gefangenenverguetung-ist-eine-ohrfeige

rbb24 Inforadio Newsjunkies (Podcast): Gefängnis-Arbeit: Warum 2 Euro pro Stunde zu wenig sind: https://www.inforadio.de/podcast/feeds/newsjunkies/newsjunkies.html